Mal nicht nur auf das Bauchgefühl hören - Ein Interview mit Raphael Fellmer (SIRPLUS)

März, 2022


Raphael Fellmer, Gründer und CEO von SIRPLUS, hat uns verraten, wie aus 5 Jahren Geldstreik das Retter*innen-Unternehmen SIRPLUS entstanden ist. SIRPLUS ist ein Online-Supermarkt mit Kochboxen, bei dem Lebensmittel bestellt werden können oder bequem per Abo das Retten von Zuhause kinderleicht macht. Die Lebensmittel werden von Produzent*innen und Großhändler*innen gekauft die die Ware nicht mehr normal absetzen können. So werden überschüssige Lebensmittel zurück in den Kreislauf geführt, womit wiederum Lebensmittelverschwendung reduziert wird. Angefangen hat die Lebensmittelrettungs-Erfolgsgeschichte mit einem Geldstreik von Raphael. Was genau dahinter steckt und was die zukünftigen Pläne für SIRPLUS sind, hat er uns in einem Interview verraten. 

5 Jahre Geldstreik - wie kann man sich das in einer Konsumgesellschaft vorstellen? Kannst Du uns durch einen Tag im Geldstreik führen? 

Bei dem Geldstreik ging es mir darum, auf die Überflussgesellschaft Achtsamkeit und Bewusstsein zu lenken, mit dem Ziel zu schauen, was jede*r persönlich gegen die Verschwendung tun kann. Da habe ich zum einen Lebensmittel von Supermärkten gerettet: Zuerst aus der Tonne und dann in Kooperation mit den Supermärkten woraus dann die wahrscheinlich größte freiwillige Lebensmittelretten Bewegung foodsharing entstanden ist. Damit ich was zum anziehen hatte, haben mir Freund*innen, Bekannte und Nachbar*innen Kleidung die sie nicht mehr nutzen geschenkt, denn schließlich werden über 1 Millionen Tonnen an Textilien allein Deutschland jährlich entsorgt. Und so hat es auch mit anderen Konsumgütern funktioniert. Gewohnt haben wir dort wo halt Räumlichkeiten zur Verfügung standen, die uns verschiedene Personen oder Vereine zur Verfügung gestellt haben. 

Wie können wir die Gesellschaft dazu sensibilisieren, Lebensmittel bewusster zu konsumieren? 

Zum einen ist es glaube ich ganz wichtig, dass überhaupt das Bewusstsein geschaffen wird, dass 50% aller Lebensmittel in Deutschland verschwendet werden und davon die Hälfte bei uns Zuhause. Was wir konkret dagegen tun können? Sehen, riechen und schmecken, statt nur das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) zu checken. Wir müssen mehr auf unsere Sinne vertrauen, das Einkaufen gehen besser planen und nicht immer nach den Lebensmitteln im Laden greifen, die perfekt aussehen. Oder einfach gleich gerettete Lebensmittel bei SIRPLUS bestellen oder sich bei foodsharing engagieren. 

Rund 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr entsorgt: Was sind Deiner Meinung nach die Hauptursachen für diese riesigen Mengen an weggeschmissenem Essen? 

Das liegt unter anderem am MHD, wie in meiner Antwort zuvor erläutert, denn es werden viele Lebensmittel weggeschmissen, da sie abgelaufen, aber eigentlich noch genießbar sind. Das Problem ist, dass wir es uns schlichtweg ethisch und ökologisch nicht leisten können, so viele Lebensmittel wegzuschmeißen. Wir es aber trotzdem tun, weil wir es uns ökonomisch leisten können und leider den Bezug zu der Erde und den Lebensmitteln verloren haben. So verschwendet jeder Mensch in Deutschland rechnerisch viele hundert Euro an Lebensmittel pro Jahr.

50% der Lebensmittel werden schon verschwendet bevor sie überhaupt bei uns Zuhause landen, denn Verschwendung passiert natürlich entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Das heißt, die Supermärkte sind z.B. nicht nur verantwortlich für die Verschwendung in ihren eigenen Tonnen, sondern weil sie gewisse Normen an die Bäuer*innen und Landwirt*innen und Produzenten weitergeben. Denn diese können gar nicht genau kontrollieren, was aus der Erde wächst und rauskommt. Sie bleiben dann auf Produkten sitzen, weil der Handel sehr strenge Normen hat, wann Obst und Gemüse zu groß, zu klein, zu gerade oder zu krumm etc. sind. 

Alle stationären Retter*innenmärkte von SIRPLUS wurden unter anderem durch die Corona Pandemie geschlossen. Wird SIRPLUS jemals wieder in den Einzelhandel zurückkehren? Kannst Du dir vorstellen, mit SIRPLUS im großen Supermarkt-Sortiment vertreten zu sein? 

Wir haben unsere Läden geschlossen und setzen jetzt komplett auf den Onlinehandel. Dort bieten wir Abo Modelle mit verschiedenen Boxen an, z.B. die Everyday Box in vegan und vegetarisch oder die Bio+Vegan Box. Insgesamt haben wir derzeit in ganz Deutschland 6000 Kunden*innen die mit einem Abo Lebensmittel retten und somit Teil der Bewegung sind. Mittlerweile verschicken wir auch deutschlandweit Obst und Gemüse. Aktuell wissen wir nicht, ob wir irgendwann nochmal offline zurückkehren - im Moment steht das zumindest nicht an und konzentrieren uns vollkommen auf die Produktentwicklung um vor allem unsere Kund*innen noch glücklicher zu machen und Ihnen Zeit zu sparen und gleichzeitig verhelfen ganz einfach ihren ökologischen Fußabdruck reduzieren. 

Wie siehst Du die Zukunft? Wie werden Lebensmittel in Zukunft konsumiert? 

Ich glaube ganz fest daran, dass obwohl wir es uns leisten können Lebensmittel wegzuschmeißen, wir aus nachhaltigen und sozialen Gründen zukünftig wieder Lebensmittel mehr schätzen werden. Ich hoffe, dass Lebensmittel nicht mehr nur irgendeine weitere Commodity sein werden, sondern, dass es ähnlich wie mit Wasser wird: Ich kann es verschwenden, aber tue es nicht und mache den Hahn aus, weil ich den Sinn in diesem Handeln und den wertschätzenden Umgang sehe. Außerdem muss die Gesellschaft und die Politik in Zukunft aufhören das Essen auf die Optik zu reduzieren und stattdessen die Qualität und den Geschmack mehr in den Fokus stellen. Das Ziel der Vereinten Nationen, zu denen sich auch Ex-Kanzlerin Merkel ausgesprochen hat, ist die Reduktion von 50% der Lebensmittelverschwendung bis 2030. Das schaffen wir nur, indem die Politik, die Lebensmittelindustrie sowie Privatpersonen alle ihren Beitrag leisten und wir gemeinsam an einem Strang ziehen. 

Zum Schluss würden wir gerne wissen, ob Du einen aktuellen Retter*innentipps für unsere Leser*innen hast? 

Mein Tipp ist es zu schauen, dass wir wirklich nur die Lebensmittel kaufen, die wir brauchen und diese dann auch wirklich verbrauchen. Nicht nur darauf zu achten, worauf habe ich jetzt hunger, sondern eher: Welche Sachen im Kühlschrank müssen wirklich bald weg? Oder auch das Essen vom Vortag nicht wegschmeißen, sondern einfach essen. 

Beim Einkaufen ist es sinnvoll Einkaufslisten zu machen und natürlich auch bei SIRPLUS mitzuretten. Und wenn mal was abgelaufen ist, sollte immer auf die Sinne vertraut werden. Denn manchmal ist ein Joghurt 8 Monate nach dem MHD immer noch bestens genießbar. 

Wir müssen also einfach einen bewussten Umgang mit Lebensmitteln beim Einkaufen schaffen.

Vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Retter*innenwelt von SIRPLUS, Raphael! Sowohl wir als Gesellschaft als auch die Politik, haben das Ziel zur Vermittlung der Lebensmittel-Wertschätzung noch lange nicht erreicht!